Gastbeitrag in der Wirtschaftswoche: Mercosur-Abkommen: Europa kann der Welt nicht die Bedingungen diktieren

Die EU und die Mercosur-Staaten wollen ab Montag entscheidende Fortschritte machen für die Gründung der weltweit größten Freihandelszone. Dafür braucht es Handelspolitik auf Augenhöhe. Ein Gastbeitrag.

Seit 20 Jahren ziehen sich jetzt schon die Verhandlungen für das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und den südamerikanischen Mercosur-Staaten hin. Beim am Montag beginnenden EU-Lateinamerikagipfel in Brüssel sollen nun entscheidende Fortschritte erzielt werden. Klar ist schon jetzt: Die Zeiten, in den die Europäer der Welt ihre Bedingungen diktieren konnten, sind vorbei.

Die Mercorsur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) formulieren erhebliche Nachbesserungswünsche an den aktuellen Vertragsentwurf. Wichtig ist es Vertragsverhandlungen auf Augenhöhe umzusetzen, die formulierten Änderungswünsche ernst zu nehmen und in zielgerichteten Nachverhandlungen endlich eine nachhaltige Ausgestaltung von Handelsverträgen zu realisieren.

Argentinien kritisiert Benachteiligung 

Der argentinische Außenminister Santiago Cafiero stellte vergangene Woche bereits klar, dass er die argentinische Benachteiligung bei der Zollbefreiung und den Exporten nicht akzeptieren wird. Auch Brasiliens Präsident Lula da Silva sieht Nachbesserungsbedarf. Er schließt aus, dass die Südamerikaner einem Handelsvertrag zustimmen, der sie „zu der ewigen Rolle eines Rohstoffexporteurs verdammt“. 

Selbstbewusst fordert die brasilianische Regierung in ihrer neuen Industriestrategie Ausnahmen für die nationale Vergabe, ziehen die Öffnung des nationalen Marktes für staatliche Beschaffung im Gesundheitssektor zurück und möchten Vorgaben erlauben, die lokale Wertschöpfung bevort­eilt. 

Schwierige Ausgangslage für den Gipfel in Brüssel 

All das ist eine schwierige Ausgangslage für den am Montag beginnenden EU-Lateinamerika-Gipfel in Brüssel. Vertreterinnen und Vertreter aus der Wirtschaft, der Politik aber auch die spanische EU-Ratspräsidentschaft selbst erwarten, endlich einen wesentlichen Fortschritt für ein gemeinsames EU-Mercosur Handelsabkommen zu erzielen. Doch werden sich die Mercosur-Staaten nicht die europäische Sicht aufzwingen lassen.

Europa und allen voran die exportorientierte deutsche Wirtschaft sucht nach neuen, diversifizierten Rohstofflieferanten, sicheren Lieferketten und Absatzmärkten und bemüht sich dabei um einen über Jahrzehnte sträflich vernachlässigten Kontinent. Es ist enorm wichtig, nach dem Ende der Bolsonaro-Präsidentschaft wieder die Kommunikation mit den gesamten Celac-Staaten (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten) zu intensivieren, doch müssen wir den Südamerikanern zugestehen, dass auch sie die geänderten Rahmenbedingungen erkennen, ihre eigenen Schlüsse ziehen und legitime Nachforderungen formulieren. 

Ampel will Handelspolitik auf Augenhöhe 

Innerhalb der Ampel-Koalition haben wir immer daran festgehalten, Handelspolitik auf Augenhöhe zu machen. Dazu gehört, den Status der Gegenüber als gleichberechtigte internationale Akteure anzuerkennen und Forderungen der Gegenseite ehrlich und offen zu diskutieren. 

Auch die EU-Kommission täte gut daran, lösungsorientiert die Signale aus dem globalen Süden ernst zu nehmen. Statt als Hegemon darauf zu bestehen, die Textentwürfe wären final, sollte sie sich ernsthaft darum bemühen die Verhandlungen zu einem guten Abschluss zu führen. Der Vorwurf des in der Diskussion erhobenen Zeigefingers ist Sinnbild eines Verhandlungsstils eines konservativ geführten EU-Apparats, der vermeintliche eigene Interesse über globale Verantwortung stellt.

Die Zeitenwende bestärkt das Argument 

Die Mercosur-Staaten zählen wir zu den demokratischen, befreundeten Staaten auf gleicher Werte-Basis. Allein schon deshalb ist es angesichts der geopolitischen Situation richtig, die Beziehungen auf allen Ebenen zu intensivieren. Die oft zitierte Zeitenwende bestärkt dieses Argument. Wir müssen aber gleichsam auch alle Hebel nutzen, um global die Klimakrise zu bekämpfen und nachhaltig zu wirtschaften. Denn Klimagerechtigkeit und eine Weltwirtschaft innerhalb der planetaren Grenzen sind die Voraussetzungen für Frieden und geopolitische Stabilität. 

Lula da Silva verfügt über keine eigene Mehrheit im Parlament und im Frühjahr stimmte dort eine Mehrheit, die der Agrarindustrie zugeordnet werden kann, für die Begrenzung von indigenen Gebieten. Das hindert nicht nur die Indigenen selbst an der Rückkehr auf ihr Land, sondern bedroht direkt die Natur. 

Nachhaltige Bewirtschaftung statt kurzfristige Gewinnmaximierung

Auf einer Reise nach Brasilien in diesem Frühjahr konnte ich sehen, wie unmittelbar hinter den geschützten Gebieten die großflächigen Soja-Anbaugebiete auf gerodeter Fläche beginnen. An diesen Stellen wird sehr deutlich, dass geschützte Gebiete, in denen Menschen in Einklang mit der Natur nachhaltig wirtschaften, essenziell sind für den Erhalt des Regenwaldes. Nachhaltige Bewirtschaftung ist dabei langfristig ökonomisch sinnvoller als kurzfristige Gewinnmaximierung durch das „Geschäftsmodell“ Wald-Vernichtung und großflächige Agrar-Industrie.

Es ist ein enorm wichtiges Zwischenziel, dass im ersten Halbjahr unter Lulas Regierung die Entwaldung des Amazonas deutlich zurückgegangen ist. Zur Wahrheit gehört aber ebenso, dass die Zerstörung des Cerrado angestiegen ist, einer der artenreichsten Savannenlandschaften der Welt. 

Während die Bewohner des Amazonas als Indigene weitgehende, nationale, abgesicherte Rechte und Vorteile genießen, wird der Cerrado von den Nachkommen afrikanischer Sklaven bewohnt und bewirtschaftet – den Quilombolas, denen deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteilwird und die über keine gruppenspezifischen Rechte innerhalb der nationalen Gesetzgebung verfügen. 

Die Grenzen der Wohlstandserzählung 

Brasilien zeigt die Grenzen unserer Wohlstandserzählung vom ständig notwendigen Wachstum. Ohne die Unterstützung beim Aufbau neuer nachhaltiger Wohlstandsprojekte lässt sich kaum verhindern, dass die Brasilianer für kurzfristige Profite und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auch weiterhin Wald am Atlantik, im Amazonas und im Cerrado zerstören. Dies gilt auch für die Rohstoffgewinnung, die zu einem Großteil für Abnehmer in Europa erfolgt. 

Wir stehen daher in der Bringschuld, Lula mit seinen Projekten zu unterstützen, Wertschöpfung vor Ort zu fördern und gerade den Handel mit qualitativ hochwertigen Produkten aus dem Regenwald zu erleichtern. All dies rechtfertigt und erfordert zielgerichtete Nachverhandlungen.

Moderne Handelsabkommen bieten erhebliche Chancen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit bei erneuerbaren Energien, bei Rohstoffen, bei der Diversifizierung und beim Umweltschutz. Diese wollen wir nutzen und wie in der Koalition vereinbart durch verbindlichen Waldschutz ergänzen. 

Effektiven Wahlschutz festschreiben 

Es braucht deshalb ein eigenständiges Waldschutzkapitel oder eine Neufassung der Zusatzvereinbarung inklusive sanktionsbewährter Streitbeilegungsmechanismen, sodass effektive Maßnahmen zum Waldschutz auch für die Zukunft festgeschrieben werden. 

Die von einigen Nichtregierungsorganisationen kommunizierte grundsätzliche Ablehnung von intensiven Wirtschaftsbeziehungen verkennt die Notwendigkeit, insgesamt zusammenzuarbeiten, um Erfolge bei der globalen Aufgabe des Klima- und Waldschutzes und des Wirtschaftens innerhalb der planetaren Grenzen zu erreichen.

Ich stehe zu der Zusage der grünen Bundestagsfraktion in beide Richtungen: werden die klar formulierten Bedingungen für Nachhaltigkeitskapitel und effektiven Waldschutz erfüllt, dann – und  und nur dann – stimmen wir einem EU-Mercosur-Freihandelsabkommen zu.

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